Der Fôret de Risoud. Der grosse Unbekannte

 

Dies hier sollte eigentlich ein Artikel über die Klangfichten im Fôret de Risoud werden. Klangfichten gibt es allerdings an mehreren Standorten in der Schweiz. Die Geschichten, die dieser Wald zu erzählen hat, sind hingegen einzigartig.

 

Fast wären sie gescheitert bei ihrer letzten Passage im Mai 1944, Fred Reymond, Victoria und Madeleine Cordier und Anne-Marie Piguet. Der Gendarm Adrien Goy hatte sie erwischt, irgendwo an der Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz, im Fôret de Risoud. Doch der Gendarm drückte alle Augen zu und ging zurück nach Le Brassus, wo er stationiert war. Insgesamt retteten die geschlossenen Augen des Monsieur Goy an jenem Tag über einem Dutzend Menschen das Leben. Daran erinnert noch heute eine Plakette im Hôtel d’Italie, einer der Waldhütten im Fôret. Wobei Hôtel ein Euphemismus ist, aber immerhin gibt es in der Hütte einen kleinen Kanonenofen für etwas Komfort.

Der Wald muss sehr belebt sein gewesen sein zu den Zeiten, als die Nazis die Welt mit ihrem Terror überzogen. Gendarmen, Nazis, Flüchtlinge und Fluchthelfer irrlichterten dort durch den finsteren Tann. Die Grenze auf dem Höhenzug des Fôret, eine kleine Trockensteinmauer, war nur schwer zu überwachen. Und so gelang es einem französisch-schweizerischen Netzwerk aus gut einem Dutzend Freunden, Informationen, Lebensmittel und eben auch Flüchtlinge durchzuschmuggeln. Häufig konnte man sich aus dem Weg gehen in dem 2200 Hektar grossen Gebiet. Leider nicht immer, und so gab es neben glücklich Geretteten auch zahlreiche Tote und Verletzte.

Doch der Fôret war über viele Jahrhunderte hinweg nicht nur beliebte Schmuggelstrecke, sondern auch Gegenstand gerichtlicher und kriegerischer Auseinandersetzungen.

 

Der Kampf ums Fischen

Im Jahr 1186 hatte Kaiser Friedrich Barbarossa einen bischöflichen Schiedsspruch zum Verlauf der Grenze bestätigt. Zuvor war es zwischen den Mönchen des Prämonstratenklosters am Lac de Joux und den Mönchen des burgundischen Benediktinerklosters von St. Claude sehr häufig zu Handgreiflichkeiten wegen Fischfang und Holznutzung gekommen. So richtig friedlich wurde es aber auch nach dem Schiedsspruch nicht. Die Bewohner des Tals erhielten im 14. Jahrhundert das Recht, Waffen zu tragen, um sich gegen allerlei Übergrifflichkeiten zu wehren. Und auch nachdem die Berner das Gebiet übernommen hatten, gab es immer wieder Zusammenstösse zwischen den Einheimischen und den Burgundern.

Seit 1649 zieht sich eine kleine Grenzmauer über den Mont Risoux. Sie war von den damaligen „Besitzern“, den Bernern, errichtet worden, die 1646 die Rodung des Randgebiets als natürliche Grenze zur Freigrafschaft Burgund untersagten. Wie die Berner in den Besitz dieser Region gekommen waren, ist eine andere Geschichte. Immerhin - dass der Wald heute so gross und dicht ist, verdankt er den Bernern, denen der Schutz des Waldes sehr wichtig war. Nicht aus ökologischen, sondern aus strategischen Gründen.

Nach etwas Hin und Her, Holz- und Viehschmuggel, Konflikten hie und da ging der Risoud schliesslich Anfang 19. Jahrhunderts an den Kanton Waadt, der knapp die Hälfte der Nutzungsrechte an die Gemeinden abtrat. Heute ist der Risoud Teil des Parc Jura Vaudois.

 

Von der Schweiz nach Frankreich

Der Risoud ist die grösste Waldkette Europas, gelegen auf dem Hügelzug Mont Risoux. Eine raue Gegend, in der die Jahresdurchschnittstemperatur kühle 6 Grad beträgt. Es gibt ein ausgedehntes Netz an Wanderwegen und Forststrassen. Eine Wanderkarte wird wärmstens empfohlen und vom Abweichen der Wege wird dringend abgeraten. Wer sich verirrt und nicht mehr hinausfindet, kann immerhin in einer der zahlreichen Schutzhütten unterschlüpfen. Die können nicht reserviert werden, hier gilt: „de Schnälleri isch de Gwschinderi“. Bei näherer Betrachtung erweist sich allerdings, dass es nicht ganz so kritisch ist. Wer die App „Schweiz Mobil“ bedienen, eine Karte oder die zahlreichen Schilder lesen kann, findet auch wieder nach Hause.

Der Wald ist in mehrere Abschnitte unterteilt: So heisst das Gebiet über dem Lac de Joux Grand Risoud, der weiter östliche Teil Petit Risoud. Als Teil des Faltenjura ist auch der Risoud geprägt von Kalkfelsen, Hügelzügen und Fichten-Tannenwäldern. Eindeutiges Zeichen, dass man die Landesgrenze Schweiz/Frankreich passiert hat, ist, wenn an den Bäumen gelb-blaue Markierungen auftauchen. Dahinter tun sich Abgründe auf: Der Jura fällt hier streckenweise nahezu senkrecht Richtung Frankreich ab. Es lohnt sich, dort entlang zu wandern - die Aussicht vom Grat aus ist einfach atemberaubend.

 

Tiere im Fôret

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts lebten hier Bär, Luchs und Wolf. Irgendwann dann eben nicht mehr. Seit im Fôret de Risoud aber nicht mehr einfach jeder und jede holzen und jagen darf, sind auch die Wildtiere zurückgekehrt. Teilweise mit Hilfe: Luchse wurden in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts wieder angesiedelt. Auch Murmeltiere wurden wieder ausgesetzt, wann genau, liess sich leider nicht eruieren.

Heute leben also Luchse in dem Gebiet, Wildschweine und Wildkatzen. Vom Bär war bisher nicht die Rede, die Existenz eines kleinen Wolfsrudels hat nun aber einmal mehr für Aufregung gesorgt. Ferner ist der Risoud Zuhause mehrerer Arten seltener Bergvögel wie beispielsweise dem Auerhuhn. Laut Tourismusbüro des Vallée de Joux sind Teile des Waldes von Mitte Dezember bis Ende Juni gesperrt, um den dort heimischen Tieren die nötige Ruhe zu gönnen.

  

Doch noch ein Exkurs über die Klangfichten

Der Risoud hat noch mit einer weiteren Besonderheit aufzuwarten: Hier kommen die sogenannten „Klangfichten“ vor, deren Holz ob seiner Klangeigenschaften bei InstrumentenbauerInnen sehr begehrt ist. Ob Klangfichten ganz normale Fichten oder eine genetische Variante einer normalen Fichte sind, daran scheiden sich die wissenschaftlichen Geister. Erkennen, ob es sich bei einer Fichte nun um eine 08/15 Fichte oder eben eine Klangfichte/Haselfichte/Tonholz/Aggeholz handelt, kann man leider nur post mortem. Das Holz der Klangfichte ist langfaseriger und biegsamer. Und: „Eindeutig erkennen lässt sich eine Haselfichte, wenn man die Rinde entfernt. In der Längsrichtung des entrindeten Stammes verlaufen bis etwa 25 cm lange Rillen mit 0,5–2 mm Tiefe und bis etwa 3 mm Breite. Diese Rillen können gerade verlaufen oder sich kreuzen.“ So beschreibt es Paul Rüegsegger in seinem Artikel „Die Haselfichte“*. Die Klangfichte hat also zum einen gefühlt tausend Namen, zum anderen eine andere Holzstruktur. Das Holz zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es besonders dicht ist, weil langsam gewachsen. Es bietet besondere (und widersprüchliche) Eigenschaften wie Elastizität und Widerstandskraft. So hat die perfekte Klangfichte dichte Jahresringe, wenig Spätholzzuwachs, keine Äste… Dafür bedarf es einer kurzen Vegetationsperiode, einer gleichmässigen aber nicht übermässigen Wasserzufuhr und eines windgeschützten Standorts. Je höher dieser über dem Meer und je abgelegener, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, einer Klangfichte zu begegnen. Selbstredend kommen jene Klangfichten dann auch nicht besonders häufig vor.

Eine von hundert oder eine von zehntausend, die Angaben sind da etwas widersprüchlich - das ist die derzeitige Ausbeute an Klangfichten, die der Fôret de Risoud für InstrumentenbauerInnen bereit hält.

 

Eine Gesellschaft im Umbruch

Der Risoud ist grösstenteils ein Fichten-Weisstannenwald. Diese Waldgesellschaft gilt als besonders anfällig auf die zunehmende Trockenheit und Befall durch Borkenkäfer. Im Risoud sind denn auch deutlich die Schäden an den hohen Fichten und auch an den Weisstannen zu sehen, die die Trockenperioden der letzten Jahre hinterlassen haben. Besonders die grossen und hohen Bäume und von diesen besonders die Fichten mit ihren flachen Wurzeln sind nicht auf das Anthropozän eingestellt. Die Weisstannen haben da schon bessere Karten, da sie mit ihrem Pfahlwurzeln Wasser in tieferen Bodenschichten erreichen können. Auch setzen ihnen weniger Schädlinge zu - dafür allerdings das Rotwild. Damit die Tanne also ihren Platz im Risoud - und nicht nur dort - behaupten kann, „muss man aber den Wildtierbestand in den Griff bekommen“, so Prof. Dr. Andreas Rigling von der ETH. Laut Rigling wird der Risoud in einigen Jahren ein anderes Gesicht haben: Er geht davon aus, dass sich die Vegetation 400-600 Meter in die Höhe verschiebt, sprich, die Bäume, die heute am Lac de Joux wachsen, werden dann weiter oben zu finden sein.

Für die Waldgesellschaften der Zukunft plädiert Rigling für eine diversere Landschaft für eine Risikoverteilung. Wälder seien eigentlich robuste Systeme, sagt Rigling, Wechsel würden immer über Störungen, punktuelle oder grossflächige Katastrophen (Borkenkäfer, Trockenperioden, Stürme, Waldbrände) vonstattengehen. Die jetzige Generation von Bäumen würde irgendwann absterben und einer neuen Platz machen. Die Baumartenzusammensetzung würde sich verändern und die nachfolgenden Bäume würden dann einfach nicht mehr so gross, denn: „Die Baumhöhe ist von der Verfügbarkeit des Wassers abhängig.“

Für die Klangfichte verheisst dies nichts Gutes. Werden doch die für ihre Bedingungen geeigneten Standorte immer seltener.

 

 Les fleurs de Lys

Die Geschichte der Retter im Zweiten Weltkrieg ist auch heute noch im Risoud präsent. Im November 2020 verstarb der letzte der Retter, Bernard Bouveret, Ritter der Ehrenlegion seit 1983 und Persönlichkeit des Jahres 2014. Seine Geschichte und die der anderen Retter hält der Verein „Le Mur aux Fleurs de Lys“, eine schweizerisch-französischen Organisation, lebendig. Der Name des Vereins bezieht sich auf die auf französischer Seite mit einer Lilie verzierten Grenzsteine entlang der Landesgrenze. Jedes Jahr am letzten Sonntag führt der Verein im Juni die „Rando des Passeurs“ durch.**

 

 

*   Rüegsegger, P. (2002): Die Haselfichte. Gesuchtes Holz für Instrumentenbauer. Wald Holz 83, 06: 39-42.

** Weitere Informationen zum Rando des Passeurs gibt es hier:https://www.randodespasseurs.com/