Der Flachsee im Reusstal - Natur einmal hin und zurück

 

Kein Erdbeben, kein Gletscher und auch sonst keine höhere Gewalt hat den Flachsee, gelegen zwischen Bremgarten und Rottenschwil im Kanton Aargau, erschaffen. Der Mensch allein ist Schöpfer dieses Universums rund um diesen Stausee. All das zu erhalten bedeutet einiges an Aufwand.

 

Mit dem Neubau des Kraftwerks Bremgarten-Zufikon 1975 schlug die Geburtsstunde des Flachsees - dem ökologischen Ausgleichstrostpflaster für Natur- und Landschaftsschützer. Hatte sich nämlich viele Generationen zuvor die Reuss noch durch ihr Tal von kreuz nach quer geschlängelt, war sie schon Ende des Mittelalters dem Menschen passend gemacht worden. Begradigungen, Verbauungen und Landwirtschaft hatten den Verlauf der Reuss über Jahrhunderte verändert, was nicht überall für Begeisterung gesorgt hatte. Und so verpflichteten zwei Volksinitiativen, eine 1965, die andere 1969, den Kanton schliesslich zum Schutz des Gebiets. Schon zuvor, im Jahr 1962, war die Stiftung Reusstal gegründet worden. Deren Ziel war es, die Reusslandschaft zu erhalten und vor Grossprojekten baulicher und technischer Art zu schützen. Die Stiftung kaufte zu diesem Zweck immer wieder Landflächen auf und initiierte Naturschutzprojekte und wirbelte dabei offenbar so viel Staub auf, dass es manchem Landwirt nicht ganz geheuer war: „In der Anfangszeit gab es einen regelrechten Krieg, man hat die Riedflächen teilweise mit Klärschlamm gedüngt“, so Niklaus Peyer, der die Gruppe Information und Aufsicht der Stiftung Reusstal leitet.

 

Wenn es nicht mehr gleitet, rollt oder hüpft

Kann man den Flachsee als positives Resultat des Kraftwerkbaus betrachten, so gibt es doch auch Auswirkungen, die zumindest einigen Aufwand mit sich bringen. Denn durch das Aufstauen hat die Reuss an Schleppkraft verloren, was den Geschiebehaushalt des Flusses an dieser Stelle zum Erliegen gebracht hat. Als Geschiebe bezeichnet man, stark vereinfacht gesagt, alles, was auf der Gewässersohle gleitet, rollt oder hüpft. Viele Wassertiere sind für ihre Fortpflanzung auf das Geschiebe angewiesen. „Die Äsche zum Beispiel“, so Peyer, „die braucht einen offenen Kiesgrund am Fluss zum Laichen“. Setze sich dann aber noch das Feinsediment des Gewässers im Kies ab, würde es ihn sozusagen verbacken und das wäre dann der Äsche Ende.

Wegen des Kraftwerks setzen sich nun aber Geschiebe und Feinsediment oberhalb des Flachsees ab. Also sammelt man bei Jonen den Kies ein und schüttet ihn in Bremgarten, unterhalb des Kraftwerks wieder aus. Ohne Massnahmen würden Flachsee und Reuss irgendwann verlanden. „Das wäre ein grosser Verlust“, meint Peyer.

 

Fehlende Dynamik

Im Flachsee gibt es Kiesinseln, die nach seiner Entstehung dort aufgeschüttet worden waren. Sie sind Brutgebiet für Vögel wie den Flussregenpfeifer (Charadrius dubius) oder den Kiebitz (Vanellus vanellus). Allerdings müssen die Inseln immer wieder gejätet werden, manchmal ist es sogar vonnöten, die Steine zu waschen. Denn: Ohne menschliche Eingriffe wüchsen die Kiesinseln zu und die eingangs erwähnten Vögel hätten keine Brutplätze mehr. „Zugewachsen ist es schnell, eine offene Landschaft gibt es nicht mehr von selber“, sagt Peyer. Pionierräume entstünden in der Schweiz in der heutigen Zeit nicht einfach so, da die Landschaftsdynamik hier unterdrückt sei. „Früher hat die Reuss noch die Arbeit gemacht, da kam dann das Hochwasser und hat dann mal einen ganzen Wald weggeschwemmt, dann gab es wieder eine Pionierfläche“, so Peyer.

Von unberührter Natur kann hier also keine Rede sein. Würde man nichts unternehmen, wären die Kiesinseln in kürzester Zeit überwachsen, der See verlandet und Neozoen und Neophyten würden sich allerorten ausbreiten.

 

Neo-Bewohner

Eine gut sichtbare Neozoin ist beispielsweise die Mittelmeermöwe (Larus michahellis). Entlang der Mülldeponien sei sie immer weiter in die Mitte Europas gezogen, so Peyer. Als grosser und hungriger Vogel setzt sie den kleineren einheimischen Vögeln zu. „Die Blässhühner haben sich jetzt weiter ins Schilf verzogen mit ihren Schwimmnestern“, so Peyer. So könnten zumindest sie ihre Eier und Jungvögeln schützen. Der Kiebitz hingegen, der ja gerne auf offenen Kiesflächen brütet, hat da weniger Chancen. Auch der Seefrosch (Pelophylax ridibundus), der über einiges mehr an Kampfmasse verfügt als der hiesige Teichfrosch (Pelophylax esculentus), ist in die Amphibienteiche eingezogen und dort eben der fittest of survival.

Es gab auch die Rostgans (Tadorna ferruginea), „etwas zwischen grosser Ente oder kleiner Gans, je nachdem“, beschreibt Peyer das Tier. Die sei eigentlich in Asien heimisch, aber in der Schweiz als Volierenflüchtling unterwegs gewesen. Zum einen sei sie recht aggressiv gewesen und zum anderen hätte sie die Nistkästen der Eulenvögel besetzt. „Man hat sie aber mittlerweile wegbekommen“. Die Jäger seien angereist und hätten die Rostgans „entfernt“. Peyer hüstelt kurz.

 

Schilf oder kein Schilf

„Es kommt immer drauf an, was man fördern will“, antwortet Peyer auf die Frage nach den Pflegemassnahmen beim Schilf. Die Botaniker hätten am liebsten nie Schilf, damit ihre Orchideen in Ruhe wachsen könnten. Die Ornithologen und Entomologen hätten für ihre Vögel und Insekten am liebsten immer Schilf [BotanikerInnen mögen auch Schilf, Anmerkung der Red.]. „Weil die Fläche relativ klein ist, muss man priorisieren, alles geht halt nicht“, bedauert Peyer. Zum Teil gäbe es schon sogenannte Frühschnittflächen. Auf diesen Flächen haben dann kleinere Pflanzen bessere Chancen.

 

Informieren und deeskalieren

Zahlreiche Ranger unterstützen das Naturschutzgebiet, insgesamt sind es derzeit vierzehn. „Die schulen wir intern, vor allem, was die Kommunikation und Deeskalation angeht“, erzählt Peyer. Der Druck auf das Gebiet sei enorm. Neben den üblichen Verdächtigen wie Klimawandel, Stickstoffeinträgen aus der Luft und landwirtschaftlichen Interessen ist auch der erholungssuchende Mensch häufig ein Störfaktor. Gummiböötler oder Stand up Paddeler, die die Fahrrinne verlassen und dabei die Tiere in ihrem Zuhause stressen, sind keine Seltenheit. Warum man im Brutgebiet seltener Vögel, das als Schutzgebiet von nationaler Bedeutung ausgewiesen ist, überhaupt auf dem Wasser herumfahren darf - „das ist eine politische Entscheidung“, sagt Peyer. Aber auch Naturfotografen kennen teilweise keine Scheu. Da werden schon mal Vögel aufgescheucht, damit man sie im Flug fotografieren kann. Und so sind die Ranger immer wieder unterwegs, um darauf hinzuweisen, dass man sich doch bitte - im Interesse der Tier- und Pflanzenwelt - an die Regeln halten sollte.

 

Mais oder Orchidee

Auf der einen Seite begrenzt ein Hochwasserdamm die Reuss. Da der Wasserspiegel der Reuss über dem des angrenzenden Kulturlandes liegt, gibt es ein Kanalsystem mit Pumpen, die das Wasser aus der Ebene neben dem Flachsee wieder in die Reuss befördern. „Ohne dieses Pumpsystem wäre die Landwirtschaft hier gar nicht möglich, weil die Felder so versumpfen würden“, sagt Peyer. Doch bei den letzten Hochwassern habe man gemerkt, dass es nicht reiche, einfach einen Damm zu bauen. Es sei ein Ausleitungssystem in Planung, wobei noch in der Diskussion sei, was man opfern würde, käme noch mal ein Jahrhunderthochwasser: Landwirtschaftsfläche oder Naturschutzfläche. „Das ist ein Grabenkampf zwischen Landwirtschaft und Naturschutz.“ Denn jedes Hochwasser bringt Fein- und Nährstoffe mit sich, die die kostbaren Riedwiesen dann unter Sand begraben.

 

Traumsujets für Vogelbeobachter

Der Flachsee ist ein Eldorado für Vögel - und für Vogelbeobachter. Beide ziehen in Scharen durch das Gebiet. Für die Vogelbeobachter wurde im Winter 2007/2008 ein Beobachtungs-Hide eingerichtet. Macht auf einer der einschlägigen Seiten im Internet das Gerücht die Runde, man habe von dort aus einen speziellen Vogel gesichtet, strömen am nächsten Tag Vogelfans mit Fernglas und/oder Kamera zum Hide. „Als es vor ein paar Jahre hiess, es gäbe Rohrdommeln, sind die Leute sogar aus Deutschland angereist, um sie zu fotografieren“, erzählt Peyer. Zugegebenermassen ist es ein besonderes Erlebnis, die Vögel so aus der Nähe beobachten zu können.


Quaken an der Stillen Reuss

Neben dem Flachsee finden sich in dem Gebiet noch zahlreiche weitere Gewässer. Die Stille Reuss war ein Teil der ursprünglich fliessenden Reuss und hat heute keine oberflächliche Verbindung mehr zum Fluss. Verbunden sind Reuss und Stille Reuss aber dennoch - die Stille Reuss wird vom Grundwasser der Reuss gespeist. „Das ist Sickerwasser, das auch immer wieder Flutmulden im Frühjahr von unten her füllt“, so Peyer.

Auf dem Weg vom Parkplatz zur Stillen Reuss kommt man an einem Weiher vorbei. Er ist auf der Parzelle Studweid entstanden und beherbergt Amphibien, Schlangen, Libellen etc. Unter dem Holzsteg kann man die Frösche quaken hören und sie - sofern man nicht zu laut oder hektisch agiert - auch sehr gut darunter  beobachten.

Das vom Menschen geschaffene und erhaltene Universum - es bietet die Möglichkeit, Natur, wie sie wäre, wenn es nicht anders gekommen wäre, zu erleben.  

Info:

Zieglerhaus und Stiftung Reusstal

Im Jahr 1793 erbaut, wäre das Zieglerhaus in den 1960er-Jahren fast komplett abgebrannt, zurück blieb eine Bruchbude in recht beklagenswerten Zustand. Die Stiftung Reusstal übernahm schliesslich das historische Gebäude und nach einigen Renovationen konnte die Stiftung dort ihren Hauptsitz einrichten. Heute ist das Zieglerhaus „Naturschutz-Infozentrum“ der Stiftung Reusstal. Geöffnet ist es immer am ersten Sonntag jeden Monats zwischen 13 und 16 Uhr, aber die Ausstellung kann man auch ausserhalb dieser Zeiten besuchen.