Täuschen und Tarnen im Tierreich
Steht man im Zürizoo vor dem Glaskasten der Gespenstschrecke (Extatosoma tiaratum), sieht man … nichts. Ein paar dürre Äste und Blätter, die da kreuz und quer herumliegen und -hängen. Mit etwas Ausdauer und Geduld und dem Lesen des dazugehörigen Täfelchens dämmert es: Die dürren Äste und Blätter sind die gesuchten Tiere. Bestens getarnt und somit geschützt vor allen möglichen Fressfeinden.
Tarnung als Falle
Auch der Steinbutt (Scophthalmus maximus) bevorzugt – im Gegensatz zu farbenfrohen Korallenfischen – ein diskretes Äusseres und ist häufig erst zu erkennen, wenn der tauchende Homo sapiens schon fast auf ihm draufsteht. Allerdings benutzen Scophthalmus maximus und seine plattfischigen Verwandten ihre Tarnung, um den eigenen Magen mit wenig Aufwand füllen zu können. Fressen und gefressen werden – der Gang der Natur.
Tiere, die nicht gefressen werden wollen, und das sind doch einige, haben im Laufe der Evolution zahlreiche Strategien erdacht, um diesem Schicksal zu entkommen. Genauso haben viele, die körperbautechnisch nicht auf lange Jagden ausgerichtet sind, eine grosse Bandbreite an Mechanismen entwickelt, um doch noch an Futter zu gelangen.
Verschmelzen, um nicht verdaut zu werden
Das Verschmelzen mit dem Unter- oder Hintergrund nennt sich Mimese. Das bedeutet „täuschende Tarnung“. Die entsprechenden Tiere imitieren dabei Teile ihres Lebensumfelds. Hiesiges Beispiel ist etwa der „Heugümper“, den man im Gras kaum erkennen kann. Oder das Schneehuhn (Lagopus muta) und das Hermelin (Mustela erminea), die im Winter schneeweiss und im Sommer irgendwas in graubraungesprenkelt und graubraun tragen.
Die Mimese gibt es in verschiedenen begrifflichen Unterarten. Einmal wäre da die Allomimese. Beispiel aus der Fauna sind verschiedene Kleinschmetterlinge, die leicht mit Vogelkot verwechselt werden können. Die oben erwähnte Gespenstschrecke praktiziert die sogenannte Phytomimese, sie gaukelt vor, eine (futtertechnisch uninteressante) Pflanze zu sein.
Die Zoomimese ist deutlich seltener, kommt aber beispielsweise bei Insekten vor, die sich als Ameisen tarnen, um mit ihnen leben zu können.
Gefährliche Ungefährliche
Das Vortäuschen, gefährlicher zu sein, als man ist, wird in der Zoologie als Mimikry (Nachahmung) bezeichnet. Hierfür braucht es ein gefährliches/bissiges/giftiges Vorbild, einen talentierten Nachahmer und eine(n), der/die darauf hineinfällt.
Da sich verschiedene ForscherInnen mit dem Thema beschäftigt haben, gibt es auch hier verschiedene Bezeichnungen.
Bei der Bates’schen Mimikry schlüpfen an sich harmlose Tiere in den Mantel giftiger und gefährlicher Tiere, um eben giftiger und gefährlicher zu wirken und damit Fressfeinde abzuschrecken. So sieht die ungiftige Scharlachnatter (Cemophora coccinea) den sehr giftigen Korallenottern (Micrurus) sehr ähnlich. Hierzulande bekannte Vertreterin ist die „Verall’s Wespenschwebfliege“ (Chrysotoxum verralli), die der Gemeinen Wespe (Vespula vulgaris) fast bis aufs letzte Härchen gleicht. Dieses Verhalten fällt unter den Begriff Schutzmimikry. Auch die Müller’sche Mimikry ist ein Schutzmechanismus. Hier teilen mehrere giftige Arten ein gemeinsames Merkmal (schrill-orangene Schmetterlingsflügel beispielsweise), um zu signalisieren: „Wir sind alle giftig.“
Die Peckham’sche Mimikry hingegen beschreibt die Lockmimikry, wobei Bestäuber (bei Pflanzen) oder Fressbeute (bei Tieren) absichtlich angelockt werden. Beispiel aus der Fauna wären da die Weibchen einiger Tiefsee-Anglerfische, die mit ihrem Leuchtorgan, der Esca, die schwer auffindbaren Männchen und Futtertiere anlocken.
Nun laufen in der Schweiz weder Gespenstschrecken frei, noch schwimmen Tiefseeanglerfische durch die hiesigen Seen. Doch auch hierzulande leben einige Tiere, die täuschen und sich tarnen. Man muss sie nur finden.