Moore in St Antönien. Psychologie eines Ökosystems 

Hochsensible Ökosysteme sind die Moore. Dazu ziemlich nachtragend. Ein zu tiefer Graben, eine Bikerspur quer hindurch oder Stickstoffeintrag durch wen auch immer haben bleibende Konsequenzen: sozusagen eine posttraumatische Belastungsstörung in der Natur.

  

Ein Schrei, ein Gurgeln, ein letztes Mal zittert sich noch eine Hand aus dem Moor und dann wars das gewesen mit der irdischen Existenz. Nebelumwaberter Stoff für zahlreiche Krimis. Betrachtet man das Ganze von der nüchternen Seite, kann das so nicht gewesen sein. Denn im Moor kann man nicht ertrinken wegen des Auftriebs und der hohen Dichte des Moorwassers, sondern nur versinken - und dann aber ziemlich fest stecken. Es bildet sich ein Vakuum, das einen buchstäblich ansaugt. Man kann allerdings sehr gut im Moor erfrieren, denn das Wasser ist kalt, etwa sieben bis acht Grad. Dies nur als kleiner Hinweis an diejenigen, die sich anschicken, die vorgeschriebenen Wege zu verlassen.

 

Entstanden in grauer Vorzeit

Hochmoore und Niedermoore unterscheiden sich vor allem durch die Wasserversorgung. Niedermoore werden von Grund- und Regenwasser gespeist, Hochmoore nur noch durch Regenwasser, das langsam durch die Torfschichten sickert. Niedermoore sind demnach auch noch artenreicher als Hochmoore. Früher oder später vorausgesetzt, niemand stört, werden aus Niedermooren Hochmoore. Die Entstehung der Moore begann schon mit dem Ende der letzten Eiszeit, wo kleine Seen und Teiche in Gletscherwannen verlandeten. Diese waren mit Tonablagerungen weitestgehend abgedichtet, sodass sie nicht mehr entwässert wurden. So wuchsen dort schliesslich verschiedene Torfmoose und Niedermoorpflanzen und die ehemaligen Gletscherwannen füllten sich sukzessive mit Niedermoortorf. Da die verschiedenen Torfmoose in unterschiedlichen Geschwindigkeiten wachsen, gibt es auf den Mooren auch verschiedene Strukturen - Vertiefungen mit offenen Wasserstellen und erhöhte und somit etwas trockenere Stränge.

 

Moore und das Klima

„Der Kanton hat viele dieser Flächen und damit auch eine grosse Verantwortung“, so erklärt Susanna Geissbühler vom Amt für Natur und Umwelt vom Kanton Graubünden den strengen Schutz der Moore im Kanton. Der grundsätzlichen Notwendigkeit, die Moore zu erhalten und zu schützen, hat das Schweizer Stimmvolk 1987 mit der Annahme der Rothenthurm-Initiative Rechnung getragen. Davor waren Moore im grossen Stil entwässert und der Torf abgestochen worden. Doch auch heute werden noch viele Moore entwässert und landwirtschaftlich genutzt oder bebaut. Solange Ersatz geleistet wird, ist das vielerorts immer noch möglich. Das ist nicht nur für die empfindliche Pflanzengesellschaft, die dem Untergang geweiht ist, tragisch. Moore sind sehr effiziente Kohlendioxidspeicher. Sie bedecken zwar lediglich 3 % der Erdoberfläche, speichern aber ein Drittel des erdgebundenen Kohlendioxids. Werden sie also trockengelegt, hat das einmal mehr verheerende Folgen für das Klima.

 

Feuchte Schätze

Oberhalb von St Antönien/GR finden sich gleich mehrere dieser Naturschätze, unter anderem das Grossried, das Lengried/Capelgin und das Taubried. Die ersteren sind als Nieder-, das Taubried als Hochmoor klassifiziert. Das Grossried wird noch als Extensivkulturland genutzt, den ganzen Sommer über weiden hier Kühe. An manchen Stellen haben Regenerationsmassnahmen stattgefunden, hier wurden Gräben verschlossen und diese Stellen sind derzeit auch von der Bewirtschaftung ausgenommen. „Sind die Massnahmen einmal abgeschlossen, muss man schauen, ob das Gebiet Viehtritt verträgt oder nicht“, erklärt Susanna Geissbühler. Sie gibt aber auch zu bedenken, dass Kleinseggenriede beweidet sein müssten, damit sich dort nicht zu viel Pflanzenmaterial ansammele, was dem Boden dann wiederum zu viele Nährstoffe zuführen würde. Jede Form von Düngereintrag gefährdet die Pflanzengesellschaft in den Mooren.

Im Grossried finden sich dort, wo sich die Kühe den Spuren nach zu urteilen häufiger aufhalten, Fettwiesen-Pflanzen wie das Alpen-Rispengras (Poa alpina) oder Pflanzen, die häufig begangen Stellen anzeigen wie der Breitwegerich (Plantago major). An anderen Stellen aber zeigen das breitblättrige Knabenkraut (Dactylorhiza majalis) und die Magerwiesen-Margeriten (Leucanthemum vulgare), dass sich der Stickstoff hier nur an wenigen Stellen eingeschlichen hat. Auch das Gold-Fingerkraut (Potentilla aurea) ist ein Magerwiesenzeiger.

Das Taubried ist im Geoportal der kantonalen Verwaltung als „Im Zentrum vollkommen intaktes Hochmoor von grosser Schönheit als Waldlichtung in flacher Passlage“ beschrieben. Allerdings ist es komplett eingezäunt, die grosse Schönheit lässt sich also nur von der anderen Seite der Pfosten bewundern. Verständlich, denn wie lange würde dieses ohnehin sehr seltene Hochmoor wohl vollkommen intakt bleiben, würde man es freigeben?

 

Ohne Moos nix los

Alle hier erwähnten Moore sind als saure Kleinseggenriede (Caricion fuscae) kartiert  (Lengried/Caplegin als Gross- und Kleinseggenried, dies sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt). In den Kleinseggenrieden ist die Braun-Segge (Carex nigra, was ja eigentlich schwarz heisst, aber was solls) die dominante Charakterart. In den Kleinseggenrieden finden sich noch weitere Carex Arten und andere Gräser, die feuchte und saure Standorte bevorzugen, wie beispielsweise das Wollgras (Eriophorum).

Dass Moore überhaupt existieren, ist aber den Torfmoosen (Sphagnum) zu verdanken. Sie halten das Wasser fest wie ein Schwamm und sorgen so für dauernde Feuchtigkeit. Ihr unter der Wasserlinie liegender Teil stirbt langsam ab und bildet so den Torf.

 

Von Carnivoren und Symbionten

In den Mooren können nur sehr spezialisierte Pflanzen überleben. Das Moorwasser ist sehr sauer (pH 3-4) und nährstoffarm. So haben die ansässigen Pflanzen ihre eigene Überlebensstrategie entwickelt. Sie sind also entweder sehr genügsam oder sehr raffiniert, wie beispielsweise das Gemeine Fettkraut (Pinguicula vulgaris) oder der Sonnentau (Drosera rotundifolia). Beide haben auf Carnivor umgestellt und fangen und verdauen Insekten. Der Sonnentau lockt dafür erst mit hübschen kleinen Zuckertröpfchen auf seinen hübschen kleinen Stängelchen, um anschliessend die festgeklebten Opfer mit Verdauungssäften aufzulösen und sich ihre Innereien einzuverleiben. Weniger machiavellistisch gehen die Heidekrautgewächse wie die Heidelbeere (Vaccinium myrtillus) vor, die an den trockeneren, aber nicht minder nährstoffarmen Standorten wachsen. Sie leben in Symbiose mit Mykorrhiza. Der Deal heisst: Kohlenhydrate gegen Stickstoff. Funktioniert sehr gut, sowohl für das Heidekraut als auch für die Pilze. Um die Moore herum finden sich Waldstücke mit Fichten mit Heidelbeeren, Wald-Schachtelhalm (Equisetum sylvaticum), Farnen und verschiedenen Moosen - alles Pflanzen, die sich in einer sauren und feuchten Umgebung mit überschaubarem Nährstoffangebot wohlfühlen.

Nur bedingt verträglich

Moore sind also hochsensible Ökosysteme. Und von der Hochsensibilität bis zum Trauma ist es auch im Moor mitunter nur ein kleiner Schritt bzw. eine Bikerspur, die langfristige Schäden hinterlässt. „Biken ist da nicht verboten“, sagt Susanna Geissbühler, „vernünftig ist es aber nicht.“ Kleine Tritte würde ein Moor besser wegstecken, einen Orientierungslauf eher weniger und würden zu viele Wanderer, Biker, Jogger, Nordic Walker und so weiter über das Moor ziehen, müsse die Gemeinde die Lenkungsmassnahmen überdenken. Lenkungsmassnahmen sind an dieser Stelle Stege, die über die hier erwähnten Moore führen. Diese Stege sollte man schon aus Eigeninteresse (siehe oben) nicht verlassen. Moorleichen hat man zwar bisher in der Schweiz keine gefunden. Aber wer weiss - vielleicht hat man einfach nicht gründlich genug gesucht?