Ein Tag im Leben von N'gola

Ein Tag im Leben von N'gola. Chefgorilla im Zoo Zürich

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Ein Tag im Leben von N'gola

N’Gola bedeutet Herrscher oder Machthaber. Passt - der heute 40-jährige Gorilla ist seit mehr als drei Jahrzehnten Chef der Gorillagruppe im Zoo Zürich. Ein Tag in seinem Leben.

"Mami, Mami, da isch ja gar keine Aff! Da isch ja e Mönsch!" Recht hat die Kleine: Morgens, kurz vor zehn im Zoo Zürich, streift ein Mensch durch das Gehege der westlichen Flachlandgorillas. Er befestigt Äste mit Blättern im Boden, verteilt Stroh, Grasbüschel, Tomaten und Futterkörner. Die Gorillas warten derweil in den Hintergrundanlagen auf ihren Auftritt. Die ganze Gruppe: der Silberrücken N’Gola, und seine sechs Frauen.

So viel Natur war nicht immer um die Zoogorillas: Noch vor wenigen Jahrzehnten lebten die Menschenaffen in den Zoos weltweit zu zweit in sterilen, gefliesten Räumen. Zu gross war die Gefahr, die wertvollen Tiere an einen eingeschleppten Parasiten oder  ein Virus zu verlieren. Seit es möglich ist, fast alle Arten von Krankheiten medizinisch zu behandeln, haben sich die Haltebedingungen für die Menschenaffen verändert: Stroh und Mulch bedecken nun den Boden, es gibt Seile und Hängematten. Frische Äste mit Blättern stehen täglich zur Verfügung. 

Es ist nach zehn. Ein letzter Kontrollblick - und der Mensch verlässt das Gehege.

Bühne frei für Gorilla gorilla gorilla

Kurz darauf kommt Gorilla gorilla gorilla, wie der westliche Flachlandgorilla wissenschaftlich korrekt heisst. Sehr viel Gorilla, und als sich N’Gola langsam und bedächtig nähert, wird klar, warum. Er ist riesig. Etwa 150 kg Lebendmasse. Ein Kreuz wie ein anabolikagetränkter Bodybuilder. Der Kopf so gross wie zwei Fussbälle. Hände und Füsse so lang wie der Unterarm eines Menschen. Der Satz: „Schau mal, wie gross der ist“, wird öfter an diesem Tag fallen. Mit ihm kuscheln, wie einst Dian Fossey, die berühmte Gorillaforscherin? „Das gibt blaue Flecken“, sagt Dr. Robert Zingg, Seniorkurator des Zoo Zürich. Zingg arbeitet im Zoo Zürich seit 1994 als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Er war lange für die Gorillagruppe zuständig.

Die Gorillafamilie beginnt, nach all den ausgelegten Leckerbissen zu suchen. N’Gola liegt auf dem Bauch und sucht nach Futterkörnern. Zeitgleich erscheinen gefühlt tausend Kinder im Zuschauerraum. Lautes Geschrei, Gerenne. Die Gorillas lässt das kalt. Das dicke Glas zwischen  Gorillas und Zuschauern dämpft den Lärm.

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Und: Die Zuschauer scheinen auch einen gewissen Unterhaltungsfaktor zu besitzen. Die kleine Mahiri, zusammen mit ihrer Halbschwester Mawimbi das Küken in der Gruppe, klopft vor einem Kind an die Scheibe. Das klopft begeistert zurück. N’Gola sucht unterdessen mit zenhafter Ruhe ein Futterkorn nach dem anderen aus dem Stroh. Der Stress, der im Zuschauerbereich herrscht, dringt nicht bis zu ihm durch.

Laut Zingg war N’Gola nicht immer so ruhig. Zu Beginn von N’Gola’s Chefkarriere im Zoo Zürich gab es noch ein anderes Männchen, Golo. „Die beiden müssen ziemlich Rambazamba gemacht haben“, sagt Zingg. Golo wurde schliesslich nach Budapest versetzt.

Eines der Weibchen, N’Yokumi, pflückt einen Strauss Blätter und verschwindet in eine Hängematte im oberen Bereich. N’Gola streift auf der Suche nach Tomaten durchs Gehege. Ruhig, ohne Hektik. Tomaten scheint er zu mögen. Eine nach der anderen verschwindet in seinem Mund. 

 N’Yokumi stöbert an seinem frei gewordenen Platz nach Futterkörnern. N’Gola kommt zurück, N’Yokumi macht nicht sofort Platz, und er weist sie zurecht. Nicht grob, aber nachdrücklich.

Vom Zoo in die Wildnis?

Die Frage, ob eine Gruppe wie diese in freier Wildbahn überleben würde, ist nicht so schnell beantwortet. Zingg erzählt, dass es immer wieder Versuche gab, Gorillas auszuwildern, und dass viele das nicht überlebt hätten. 

Der Grund dafür ist, dass bei Affen, bei denen viel Wissen angelernt ist, das Auswildern sehr komplex ist. Die Tiere müssen zuerst das gesamte Nahrungsangebot, das sie in der Wildnis vorfinden würden, in einem geschützten Areal kennen lernen. Sie müssen giftige von essbaren Pflanzen unterscheiden können. Ausserdem ist es schwierig für eine neue Gruppe, sich gegen „Alteingesessene“ durchzusetzen. Denn diese sind schon durch das harte Leben in der Wildnis stark selektioniert, nur die Stärksten überleben überhaupt das erste Lebensjahr. Und Gorillas sind nicht immer nett zueinander: Neue sind Konkurrenz werden nicht einfach akzeptiert.

Elf Uhr. Für die Grossen ist es Zeit für ein kleines Nickerchen. Sie haben sich auf verschiedene erhöhte Plätze und in die Hängematten zurück gezogen. Mahiri und Mawimbi schlagen Purzelbäume im Stroh. 

Halb zwölf. Jetzt wird geklettert. Im Gorillatempo. Also eher langsam. Sogar N’Gola schwingt in den Seilen. Ein Pfleger wirft aus der Galerie Futterkörner hinunter ins Gehege. Sofort sind alle wieder am Boden. Zeit für Mittagessen. Offenbar gibt es da Unstimmigkeiten: Der Chef jagt die zwei Kleinen und ein Weibchen einmal quer durchs Gehege. Als N’Gola’s Massen sich in Bewegung setzen, gehen nicht nur seine Damen im Gehege in Deckung.

Kurz vor Zwölf öffnen sich die - zuvor verschlossenen - Türen zu den Hintergrundanlagen und N’Gola verlässt, zusammen mit einem Grossteil der Gruppe, das Schaugehege. Die Weibchen kommen kurz darauf wieder zurück. Ein wenig Klettern, ein wenig Schaukeln, dann suchen sie wieder nach Futterkörnern. Später ist N’Gola wieder da. Kontrollblick in die Runde. Chef sein ist kein Selbstläufer. 

Kurz nach Mittag ist es ruhig im Gehege. Die Gorillas ruhen in den Hängematten oder auf sonstigen Schlafplätze und geniessen das süsse Nichtstun. Eine der Kleinen kuschelt mit ihrer Mutter. Die anderen schlafen allein.

 Ein halbe Stunde später sind dann alle wieder auf den Beinen. Im Zuschauerraum bewirft ein Kind ein anderes mit den Holzschnitzeln, die am Boden liegen. Gebrüll. Eine Mutter mit hochrotem Kopf und lauter Stimme rafft Kinder, Kekse und Trinkflaschen zusammen und bahnt sich den Weg ins Freie. Im Gehege ist es friedlich.

Die Intelligenz der Gorillas

N’Yokumi sitzt an die Scheibe und spitzt die Lippen zum Kuss. Zingg meint, dass sie weiss, dass sie damit viel Aufmerksamkeit erregt. Die Zuschauer jedenfalls würden gerne zurück küssen. Kameras und Smartphones sind schwer beschäftigt. 

Die Gorillas wissen genau, wer wer ist draussen an der Scheibe. Kinder, mit denen man spielen kann, oder Erwachsene, die man „küssen“ könnte. Sie wissen, wer der Tierarzt ist, wer der Pfleger, wer der Kurator. So begrüssen die Gorillas auch Zingg, wenn er am Gehege sitzt, mit einem kurzen Klopfen an die Scheibe.

Zingg erzählt, dass N’Yokumi und Mary, ein weiteres Weibchen der Gruppe, beide von Menschen aufgezogen wurden und gerne mehr Kontakt zu ihren Pflegern hätten. Trotzdem ist aus Sicherheitsgründen immer ein Gitter zwischen Pflegern und Gorillas. „Es sind immer noch Wildtiere“, sagt Zingg.

Die Gorillas vertrödeln einen grossen Teil des Nachmittags in der Hintergrundanlage. Aber als die Pfleger um drei Uhr Salat auf die Gitter legen, die den oberen Teil des Geheges von der Galerie abtrennen, sind alle wieder da. Und alle ausser N’Gola klettern nach oben. Er wartet unten auf die Blätter, die herunter fallen, liest sie bedächtig auf und kaut sie sehr langsam herunter. 

Kurze Zeit später raufen die zwei Jungen miteinander. Die älteren Weibchen suchen nach Futter. Und N’Gola? Hat sich zurückgezogen.

Halb vier: Gleiche Szene wie vorher. Ein Pfleger legt Gemüse auf die Gitter und alle kommen und klettern. Ausser N’Gola. Seine Frauen lassen Grünzeug fallen, oder werfen es herunter? und N’Gola liest es vom Boden auf.

Wie weiter nach N’Gola?

N’Gola sucht weiter nach Salat. Am Boden. Vielleicht mag er einfach nicht mehr so recht klettern. Er ist nicht mehr der Jüngste. Diverse Zipperlein plagen ihn: Arthrose und leichte Herzbeschwerden. Vor ein paar Jahren hat er sich mit dem Fuchsbandwurm infiziert. Der wird mit Medikamenten in Schach gehalten. 

Im Zoo Zürich hat man sich Gedanken über den Tag X gemacht, den Tag, an dem N’Gola seinen Chefposten umständehalber aufgeben muss. Die Auswahl eines neuen Silberrückens erfolgt dann über das Europäische Erhaltungszuchtprogramm (EEP). Dort berücksichtigt man zum einen die Genetik, zum anderen, ob der Charakter des zukünftigen Silberrückens mit dem Temperament der Weibchen zusammen passt. Ein eigenes Jungtier kommt nicht in Frage, ein Silberrücken muss ein bestimmtes Alter haben. Die Tiere zu vergesellschaften braucht dann Fingerspitzengefühl. Manchmal sei es dann ein bisschen wild, sagt Zingg, aber in der Regel würde es gut funktionieren.

Die Gorillas haben das Gemüse aufgegessen und verschwinden wieder in die Hintergrundanlage.

Kuschelige Schlafplätze, medizinische Versorgung, einen eigener Harem und Futter rund um die Uhr - das Leben könnte schlimmer sein. Trotzdem haben die Tiere im Zoo Stress, den man mit guten Haltebedingungen versucht, so weit wie zu reduzieren. Zingg: "Die  Zootiere haben einen wichtigen Job: sie werben für ihre frei lebenden Artgenossen". Dahinter steckt der Gedanke, dass der Mensch nur das schützt, was er kennt.

Gorillas und ihre Zukunft?

Natürlicherweise leben die westlichen Flachlandgorillas in den grossen Regenwäldern im Norden des Kongo. In der freien Wildbahn haben ihnen Ebola, Wilderei und die Abholzung ihrer Wälder zugesetzt. Die Spezies gilt als stark gefährdet. Bushmeat, also Fleisch von frei lebenden (meist bedrohten) Tierarten, wird auf den heimischen Fleischmärkten angeboten, und zusätzlich ausser Landes geschmuggelt. Dass die Europäer den Gorilla gerne als Wildtier erhalten würden, interessiert die Menschen vor Ort im Ernstfall herzlich wenig. Ein Grund ist, dass die Leute dort oft schlichtweg nichts zu essen haben. Ein weiterer Grund ist die schwache Infrastruktur: Für die meisten Menschen dort gibt es keinen Strom, und so brauchen sie das Holz der Regenwälder zum Heizen und Kochen. Wie lange es noch frei lebende Gorillas geben wird, ist also ungewiss.

Und der Zoo Zürich?

Für Zingg ist es wichtig, dass der Zoo keine „Arche Noah“ wird. Die Biodiversität zu erhalten, sei eine gesellschaftliche Aufgabe und könne nicht an einen Zoo delegiert werden. „Wir müssen uns bewusst machen, was für Auswirkungen wir als Menschen haben und wie die reduziert werden können“, so Zingg.

Also investiert der Zoo Zürich in Umweltbildung und Nationalparks an diversen Standorten weltweit.

 Kurz vor sechs. Der Tag am Gorillagehege klingt aus. Als alter Silberrücken im Zoo regiert man seinen Clan mit ruhiger Hand. Und so ist die Goriallagruppe sehr friedlich und harmonisch. N’Gola und seine Familie zeigen uns Menschen jeden Tag, dass die Gorillas noch existieren. Wie lange noch?

Bilder: Enzo Franchini