Dichtung und Wahrheit - der Erdmannlistein zwischen Bremgarten und Wohlen

 

Geschichten und Sagen stricken sich um Unerklärbares. Und manchmal enthalten sie auch einen Funken Wahrheit. Wie sich das wohl bei dem Erdmannlistein verhält?

 

Vom Reussgletscher vergessen gegangen sind sie, die drei Erratiker des Erdmannlisteins zwischen Bremgarten AG und Wohlen. Ob sie nun der Zufall zu seiner heutigen Erscheinung gestapelt hat oder ob Menschen oder gar Riesen da ihre Finger im Spiel hatten, das lässt sich heute nicht mehr klären. Als nahezu gesichert hingegen gilt, dass in der Höhle zwischen den Steinen Erdmännli gehaust hatten, die für etwas Kraut und Rüben kleine Tänze für die BesucherInnen aufführten. So erzählen es zumindest die Einheimischen und die werden wohl kaum Märchen erfinden, oder?! Die Erdmännli sind allerdings seit einiger Zeit nicht mehr in Erscheinung getreten. Grund ist, dass schlecht erzogene Bengel Steine in ihre Höhle geworfen hatten und die Erdmännli sich darob ins Erdinnere verzogen.

 

Riesen-Zufall?

Wer nun dafür verantwortlich ist, dass einer der drei Erdmannlisteine quer über den anderen liegt, ist Nahrung für Spekulationen. Für die einen ist es zweifellos eine Kultstätte, von Menschenhand errichtet. Diese These basiert auf der Anwesenheit weiterer Erratiker/Menhire in der Gegend. Setzt man diese und ein paar wichtige Jahresdaten wie beispielsweise Mittwinter, Mittsommer und den 1. August (sic!) in Relation, kommen einige Linien beim Erdmannlistein zusammen. Wie genau die Menschen dann vor zigtausend Jahren den sechzig Tonnen schweren Granitbrocken auf die beiden anderen gelupft haben sollen, ja, das ist eine gute Frage, aber Wunder geschehen, wer hat’s gesehn …? Man denke an Stonehenge … Nicht-einheimische Wissenschaftler halten das mit der menschengemachten Kultstätte für Guggus und erklären die Formation des Erdmannlisteins mit dem Prinzip Zufall. Wobei man im Department Bau, Verkehr und Umwelt des Kantons AG, das alle Findlinge im Kanton kartiert und beschrieben hat, ein offenes Ohr für die Kultstättentheorie hat. Wie auch immer, heute ist der Erdmannlistein als Teil des Freiämter Sagenwegs Pilgerstätte für Freizeittouristen, die die Sitzbänke und die Grillstellen an den Steinen gerne nutzen. Auch Leute, die auf Pfaden ihrer eigenen Wissenschaft wandeln, treffen sich dort mit Pendeln, Ruten und Tensoren, um Drachenlinien und anderes zu vermessen. Das Gebiet ist also Quelle vielfältiger Inspirationen …

 

Vergessliche Gletscher

In der Gegend gibt es noch mehr zu entdecken, ausser der Behausung der verschwundenen Erdmännli. So befinden sich nicht weit entfernt zwei Toteislöcher. Der Begriff „Toteis“ ist irgendwie irreführend, ist Eis ja per se keine belebte Materie. Der Ausdruck stammt aus der Geologie und bedeutet, dass der Gletscher beim Rückzug nicht nur die oben erwähnten Steine, sondern auch grössere Eisbrocken hat liegen lassen. Wird nun so ein Eisbrocken von Sediment bedeckt, ist er offiziell Toteis, weil vom aktiven Gletscher abgeschnitten und wird, wenn die klimatischen Bedingungen entsprechend sind, irgendwann abschmelzen. Das Sediment sackt ab, es entsteht ein Toteiskessel, der dann unter bestimmten Umständen (wasserundurchlässiger Boden) zum Toteissee werden kann. Der Hallwilersee beispielsweise ist ein Toteissee - wie eben auch das Cholmoos und das Torbemoos zwischen Wohlen und Bremgarten AG. Der Vollständigkeit halber soll erwähnt werden, dass es in der ganzen Gegend, die einstens vom Reussgletscher in der Würm-Kaltzeit geformt worden war, zahlreiche solcher Toteislöcher und -seen gibt.

 

 Wertvolle Moorflächen

 Vor Menschengedenken bildeten sich aus diesen Toteisseen erst Flach- und später Hochmoore. In den vergangenen Jahrhunderten wurde dann immer wieder Torf aus diesen Gebieten abgestochen und die Flach- oder Hochmoore füllten sich wieder mit Wasser. So wären Cholmoos und Torbemoos einfach Moor, hätte Mensch nicht den Torf daraus für seine Zwecke genutzt und gleichzeitig die Fläche des Torbemoos ab dem 19. Jahrhundert mit einem Grabensystem entwässert. Dies, um die Gegend forstwirtschaftlich nutzen zu können. Die Diagnose eines Geobotanikers in den 40er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts lautete: „hoffnungslos zerstört“. Er war vom Schweizerischen Bund für Naturschutz (heute Pro Natura) mit einem Gutachten beauftragt worden und sah offenbar schwarz für dieses Gebiet. Wobei er nicht ganz Unrecht hatte, ist es doch unter den derzeitigen klimatischen Bedingungen respektive Veränderungen eher unwahrscheinlich, dass sich dort noch einmal ein richtiges Hochmoor bilden wird. 

 Immerhin hat man in den letzten Jahrzehnten einige Anstrengungen unternommen, um den Erhalt bzw. die Wiederherstellung der Moore im Aargau aufzugleisen. So wurde schliesslich Mitte der 90er-Jahren beim Torbemoos ein Betonwehr mit Metallschieber in den Hauptgraben eingebaut, um die fortdauernde Entwässerung zu stoppen. Durch die Sperre wurde das Gebiet wiedervernässt und der kleine See in der Mitte entstand. 

 Die Bedeutung von Moorböden als Kohlendioxid- und Wasserspeicher und Biodiversitätsfläche kann nicht oft genug betont werden. 

 

Bettlerstein

Eine andere Geschichte, die noch die Runde macht, ist die des Bettlersteins (auch Bättlerstein). Dieser ist eine schräg im Boden stehende Granitplatte, die wohl unter dem Boden in irgendeiner Form abgestützt ist und so den Gesetzen der Schwerkraft trotzt. Zu seinem Namen ist er gekommen, weil sich in früheren Zeiten angeblich Fahrende darunter häuslich eingerichtet hatten - der Erdmannlistein war ja schon besetzt -, um einen Ausgangspunkt für Betteltouren in den umliegenden Orten zu haben. Auch den Bettlerstein hat der Reussgletscher dereinst aus dem Aaremassiv hergeschleppt und dann dort liegen lassen. 

 

Obelix und die Hühner

Kurz zu den Begrifflichkeiten: Erratiker, auch als Findlinge bekannt, sind von Gletschern verschobene Gesteinsbrocken.

Menhire hingegen sind von Menschen aufgestellte Steine, die verschiedenen Zwecken dienten, beispielsweise als Grenzsteine, Strassenmarkierung und so weiter. Das Wort „Menhir“ stammt aus dem Bretonischen und bedeutet so viel wie „langer Stein“. Im Original der Asterix Saga trägt Obelix demnach Menhire. Dass er auf Deutsch Hinkelsteine austrägt, hat mutmasslich etwas mit mündlichen Überlieferungen zu tun. Da wurde wohl aus einem Hühnenstein ein Hühnerstein und da das Huhn im Mittelhochdeutschen und hie und da auch heute noch in deutschen Dialekten Hinkel heisst, hiess der „lange Stein“ eben irgendwann Hinkelstein. Wer das Kinderspiel „Stille Post“ kennt, weiss, wie solche Dinge zustande kommen. 

Ob man nun also Erdmannlistein, Bettlerstein oder die anderen Erratiker in der Gegend als Menhire oder Erratiker bezeichnet, ist abhängig davon, welche Entstehungstheorie man bevorzugt.

 

 

Meditationsweg

Den Meditationsweg hatte die Katholische Kirchgemeinde Wohlen anlässlich ihrer 200-Jahr Feier im Jahr 2008 ins Leben gerufen. An sieben verschiedenen Stellen kann man sich mit den grossen Fragen des Lebens beschäftigen. Ungeachtet dessen, wie man zu Kirche oder Religion im Allgemeinen stehen mag - der Meditationsweg lohnt sich allemal. Die kleinen Pfade zwischen den einzelnen Stationen bergen eine gewisse mystische Atmosphäre. Moosbedeckte Steine, Bäume aller Alters- und Lebensphasen und knorrige Wurzelstöcke lassen einen an Märchen aus Kindheitstagen denken. Vielleicht schaut hinter der nächsten Biegung doch noch ein Erdmännli hervor?

 

Um diese dazu zu bewegen, sich wieder zu zeigen, muss übrigens irgendjemand mit angehaltener Luft sieben Male um die Steine rennen (Kraut und Rüben nicht vergessen!). Wer sich dazu in der Lage sieht: Der Erdmannlistein ist zwischen Bremgarten AG und Wohlen zu finden und hat sogar eine eigene Haltestelle des „Mutschellenbähnlis“ (S 17 zwischen Dietikon und Wohlen).